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Die Magie der Sprache kennenlernen

Sprechstörungen unter Kindern im Freistaat häufen sich: Die Logopäden erleben regen Zulauf

von Monika Goetsch
Bayerische Staatszeitung, Ausgabe 24 vom 13. Juni 2008

Ruth Seebauer übt mit Jacob (8) nach der sogenannten Schlaffhorst-Andersen-Schule. Foto: Ralf KruseGül steht am Waschbecken und gurgelt, ganz hinten im Hals lässt sie das Wasser blubbern, dann versucht sie Töne dazu zu machen. Das ist eine Herausforderung für Gül, der es so schwerfällt, „R“ zu sagen, dieses deutsche R, das genauso aus dem hinteren Mundraum kommt wie das türkische R, das man mit der Zunge rollt. „Bjeze“ heißt bei ihr „Breze“, „Haje“ sind die „Haare“ und ihre Logopädin Ruth Seebauer war am Anfang nur die „Jut“.

Inzwischen hat die Siebenjährige einige Stunden in der freundlichen Praxis in der Münchner Innenstadt zugebracht, hat gegurgelt und Memory gespielt und das Lied „Ich schenk dir einen Regenbogen“ zur Gitarre gesungen. „Sie ist ein sehr intelligentes Kind“, sagt Seebauer, „und macht flotte Fortschritte“. Seebauer, die selbst türkisch spricht, steht Gül auch beim Zungen-R zur Seite, damit sie nicht das deutsche R im Türkischen anwendet. „Das klingt nämlich schrecklich“, sagt Seebauer.

Ruth Seebauer betreut Kinder mit den unterschiedlichsten Störungen. Sprachstörungen stehen ja an erster Stelle aller kindlichen Entwicklungsstörungen, Spracherwerb ist ein äußerst komplexer, sensibler Vorgang. Er setzt nicht nur motorische Fähigkeiten voraus, etwa die Fähigkeit, die Lippen zu spitzen. Es muss einem Kind auch möglich sein, Laute zu verarbeiten, ihren Sinn zu erkennen, Wörter zu bilden und diese Wörter aneinanderzufügen.

Das Elterngespräch ist die halbe Therapie

Sprachverarbeitungsstörungen, Disgrammatismus, Artikulationsstörungen, Wortschatzprobleme – das sind nur einige von vielen Störungsbildern, zum Teil angeboren, zum Teil erworben, häufig beides zugleich. Vertraut man den Zahlen, sind Sprachstörungen vor allem im Bereich von Wortschatz und Artikulation im Vormarsch. Immer mehr Kinder in Bayern suchen einen Logopäden auf, im vergangenen Jahr waren es laut Techniker Krankenkasse 800 000 Besuche allein von Grundschülern. Allerdings ist auch der Markt an Logopäden gewachsen, Störungen werden häufiger erkannt, Früherkennung und Prävention stehen hoch im Kurs.

Viele bemühte Eltern, so Waldemar von Suchodoletz von der Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in München, schickten ihre Kinder bei der geringsten Abweichung zum Logopäden – Abweichungen zum Beispiel in der Aussprache der für viele Kinder schwierigen „Sch“-Laute, die sich auch verwachsen können.

Andererseits gibt es sehr viele bedürftige Kinder, die nicht in Betreuung kommen. Vor allem Kinder aus einem schwachen sozialen Milieu fallen durchs Netz. Damit dies nicht so bleibt, hat Suchodoletz mit Kollegen einen einfachen, knappen Fragebogen entwickelt, der ein komplexeres Fragebogenmodell ablösen und Kinderärzten künftig die Früherkennung von Sprachstörungen bei Zweijährigen erleichtern soll. „Benutzt ihr Kind schon Wortverbindungen von zwei oder mehr Wörtern, wie zum Beispiel Mama Buch, Baby spielen, das da rein“, heißt es da etwa, und wenn die Mama nein ankreuzt, wird der Kinderarzt ein besonderes Augenmerk auf seinen Schützling richten. Denn: „Je früher man eine Sprachstörung erkennt, desto besser ist sie zu therapieren.“ Kleinkinder, die logopädisch gefördert werden – da müssen Eltern und Logopäde an einem Strang ziehen, damit die Therapie fruchten kann.

Seebauer hatte gerade eine erste Therapiestunde mit einem Dreieinhalbjährigen aus Nepal, „der fast nichts spricht“, dessen Entwicklungschancen sie allerdings sehr positiv einschätzt. Seebauer wird mit dem Kleinen das Saugen üben und das Blasen, mit Wattebäuschen, die sie über den Tisch in ein kleines Fußballtor pusten, sie wird Klatschübungen machen, bei denen der Junge lernt, die Hände überkreuz zu führen. Und sie wird den Eltern erklären, wie sie ihrem Kind helfen können. Bisher laufe in der Familie des Jungen ständig der Fernseher, die bewegten Bilder, welche die Eltern gleichgültig lassen, zögen das Kind „in den Bann“. „Es herrscht die falsche Meinung, dass man Sprache über Hören und Zuhören lerne“, meint Seebauer. „Dabei entwickelt sich Sprache über Kommunikation, man braucht Sprechanlässe“. Die Bitte eines Kindes um ein Glas Wasser etwa, die Frage, ob es ein Spielzeug haben kann – all das sind Situationen, die Magie der Sprache kennen zu lernen und sich zugleich in ihr zu üben.

Für die bitter nötige Elternarbeit allerdings, das beklagt Seebauer fehlt von den Krankenkassen das Geld. In der Münchner Heckscher Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie hat man das Glück, Elterngruppen anbieten zu können, die laut der Sprachtherapeutin Rosemarie Mayer-Endres gerade bei Sprachverständnisstörungen oder sehr ausgeprägten Sprachstörungen nötig sind, da solche Auffälligkeiten die Eltern stark verunsichern können. An sich verfügen Eltern meist ganz intuitiv über die richtigen Strategien, die Sprachentwicklung ihrer Kinder zu fördern. Sie passen ihre Sprache und die Sprechmelodie an das Entwicklungsniveau des Kindes an, sie greifen auf und erweitern, was es äußert und sprechen im angemessenen Tempo. Und nicht zuletzt stützt die Freude am Forschritt des Kindes üblicherweise eine kindliche Entwicklung, die ohnehin mit Macht nach vorne treibt. „Fallen Alter und Sprachniveau eines Kindes ungewöhnlich weit auseinander, sind den Eltern diese Strategien häufig nicht mehr ohne weiteres zugänglich.“ Das könne Kinder ebenso frustrieren wie Eltern und die Interaktion belasten. Darum arbeite sie mit den Eltern daran, „diese intuitiven Strategien zu reaktivieren oder zu stärken“.

Einsatz von Mimik, Gestik und Stimmgebung

Dabei gehe es nicht darum, spezielle Übungen mit dem Kind zu machen, sondern das Kind in der alltäglich Kommunikation zu fördern und „wahrzunehmen, was das Kind gerade interessiert, im Kontakt zu sein, aufmerksam aufzugreifen und sprachlich zu begleiten, was das Kind bietet“. Sprachliche Äußerungen des Kindes werden grammatisch und inhaltlich erweitert, um ihm zu ermöglichen, laufend dazuzulernen. „Sagt es beispielsweise: Papa weg? Kann man antworten: Ja, der Papa ist weg. Oder: Ja, der Papa ist in der Arbeit.“ Darüber hinaus sei es insbesondere bei Störungen des Sprachverständnisses wichtig, dem Kind durch nonverbale Zusatzinformationen, also verstärkten Einsatz von Mimik, Gestik und Stimmgebung, Orientierung zu geben.

„Wir ermutigen die Eltern hier, in ihrem Ausdruck deutlicher und lebendiger zu werden.“ Seebauer hat die segensreiche Zusammenarbeit mit den Eltern ihrer kleinen Patienten gerade wieder an der elfjährigen Roswitha gespürt. Auf Roswithas Stimmbänder hatte sich ein Knötchen gelegt, „den ganzen Stress der Familie hatte sie während der Trennung der Eltern auf sich geladen“, sagt Seebauer. Seit Seebauer die Eltern in die Therapie mit einbezogen hat, geht es Roswitha besser. „Das Elterngespräch ist die halbe Therapie.“

(Monika Goetsch)

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